J. Chatzipanagioti-Sangmeister: Graecia Mendax

Titel
Graecia Mendax. Das Bild der Griechen in der französischen Reiseliteratur des 18. Jahrhunderts


Autor(en)
Chatzipanagioti-Sangmeister, Julia
Erschienen
Wien 2002: WUV - Universitätsverlag der Hochschülerschaft an der Universität Wien
Anzahl Seiten
435 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Peter Mario Kreuter, Redaktion "Südost-Forschungen", Südost-Institut

Imagologische Studien erfreuen sich nach wie vor grosser Beliebtheit, unter anderem auch, weil sie sich per se sehr gut eignen, mehrere Fachgebiete sinnvoll zusammenzufassen und so der vielbeschworenen Pluridisziplinarität Genüge tun. Dieses gilt auch für die Dissertation von Julia Chatzipanagioti-Sangmeister, die primär eine romanistische und literaturwissenschaftliche Arbeit ist, jedoch problemlos auch dem diachron ausgerichteten Linguisten, dem Neogräzisten und dem Kultur- bzw. Frühneuzeithistoriker anempfohlen werden kann.

Die Autorin, die lange Jahre einen Neugriechischlehrauftrag an der Universität Bonn innehatte und nun Assistant Professor an der Universität Nikosia ist, legt eine äusserst materialreiche Arbeit vor, die sich am Anfang jedoch ein wenig zäh liest. Dies liegt nicht etwa an einem entsprechenden Stil, sondern daran, dass die ersten drei Kapitel, die dem fachlichen Überblick sowie der Darstellung der Methodologie vorbehalten sind, mehr als ein Drittel des gesamten Buchs ausmachen. So erläutert die Autorin nachvollziehbar, warum sie sich auf die Gattung der gedruckten Reiseliteratur beschränkt und Manuskripte oder Briefe bewusst ausklammert. Dennoch bleibt ihr Korpus mit 43 französischsprachigen Erstausgaben ansehnlich. Nicht weniger deutlich arbeitet Chatzipanagioti-Sangmeister die Unterschiede in den Berichten aus den behandelten Zeiträumen (zwischen 1748 und 1771 erschien ein einziger Reisebericht im Druck) heraus, wobei die Berichte nach 1771 durchweg detaillierter sind und dem Reisen selbst bedeutend mehr Platz einräumen als diejenigen von vor 1748. Insbesondere bei der Behandlung der Makrostruktur wird der Leser durchaus auf eine Probe seines Durchhaltevermögens gestellt, denn die Abhandlung des prototypischen Aufbaus eines Reiseberichts nebst Varianten ist zwar ein wichtiger Teil der Studie, aber man wartet doch sehr gespannt auf die eigentliche imagologische Analyse der Autorin.

Diese beginnt auf Seite 173, und hier wird man als Leser mehr als entschädigt für die viele Theorie am Anfang des Werkes. Allein die Vielzahl der ausgewerteten Quellen aus französischer, griechischer, englischer und deutscher Provenienz muss lobend erwähnt werden, denn hier wurde nicht auf der Basis eines schmalen Textkorpus ein wenig dilettiert, sondern das gesamte vorhandene Material, soweit methodologisch relevant, herangezogen. Es gelingt Chatzipanagioti-Sangmeister daher, die Probleme darzustellen, die die Autoren der Reiseberichte bei der Beschreibung der Völker des griechischen Siedlungsraums hatten, denn da «grec» nicht nur das Volk, sondern auch den Orthodoxen oder den «Nichttürken» bezeichnen konnte, verschwimmt ihnen immer wieder der Gegenstand ihrer Beschreibung, was zu teils abenteuerlichen Formulierungen führt. Das Nichtverstehen der sozialen Struktur des Osmanischen Reiches wird dabei ebenso deutlich wie die ablehnende Haltung gegenüber der orthodoxen Kirche.

Hier geht die Studie in ihren zweifellos besten Teil über, in die Untersuchung der Stereotype über die Griechen. Allein die genaue Darstellung bei der Entwicklung der Wortbedeutung von grec im Sinne von «Falschspieler» (S. 183–189) ist so überzeugend gelungen, dass man diesen kleinen Teil fast schon als ein vorweggenommenes Fazit zur Entwicklung von Mechanismen, die eine stereotype Vorstellung über ein Volk zu einem eng definierten Begriff verdichten, ansehen kann. Für die Reiseberichte aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts kann die Autorin feststellen, dass die Griechen bzw. die griechisch-orthodoxen Gläubigen und Kleriker durchweg negativ gesehen werden, als eine Art Zerrbild der stets aufs Neue beschworenen antiken Vergangenheit. Der Klerus ist geldgierig, intrigant und ungebildet, der gemeine Grieche ein Heuchler, die Frauen sexuell ausschweifend, alle zusammen hassen Katholiken – dies sind in groben Zügen die vermeintlichen Charakteristika, die zum Schlagwort «Graecia mendax» führten. Wichtig ist auch der Hinweis auf die strenge Religionsbezogenheit aller Autoren aus dieser Zeit, die den Unwert der orthodoxen Theologie stets ausdrücklich betonen.

Die Reiseberichte, die nach 1771 entstanden sind, differieren hiervon erheblich, so dass das philhellenistische Weltbild eines Lord Byron vorweggenommen zu werden scheint. Nicht nur, dass die Religionsfrage mehr und mehr in den Hintergrund tritt, sämtliche Stereotype werden einer rationalistischen Überprüfung unterzogen und, wo nicht ad acta gelegt, zumindest stark modifiziert. Hinzu kommt eine Identifizierung der Griechen unter dem osmanischen Joch mit dem eigenen Volk, das unter dem Absolutismus leidet.

Es wären noch so viele schöne Details aus dieser Dissertation zu nennen, doch zwingt der Raummangel, zum Schluss zu kommen. Dieser kann kurz ausfallen, denn Graecia Mendax ist eine rundum gelungene und tiefschürfende Studie, die eben nicht eine reine Aufzählung einzelner Stereotype ist, sondern deren Entstehen erklärt und ihren Wandel über ein ganzes Jahrhundert lang verfolgt. Wahrlich, ein grosser Wurf!

Zitierweise:
Peter Mario Kreuter: Rezension zu: Julia Chatzipanagioti-Sangmeister: Graecia Mendax. Das Bild der Griechen in der französischen Reiseliteratur des 18. Jahrhunderts. Wien, WUV Universitätsverlag, 2002. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 54 Nr. 2, 2004, S. 230-231.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 54 Nr. 2, 2004, S. 230-231.

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